Der Brückenbauer am Pfauen
Nach dem Knall am Schauspielhaus hat Interimsintendant Ulrich Khuon (73) eine Saison Zeit, um dem Publikum den Pfauen und den Schiffsbau als Erlebnisräume wieder schmackhaft zu machen. - Von Isabella Seemann
Intendant für eine Saison am Schauspielhaus Zürich: Ulrich Khuon. Bild: Keystone / Gaetan Bally
Nach dem Knall am Schauspielhaus hat Interimsintendant Ulrich Khuon (73) eine Saison Zeit, um dem Publikum den Pfauen und den Schiffsbau als Erlebnisräume wieder schmackhaft zu machen. - Von Isabella Seemann
Sie übernahmen ein Haus, dem viele Zuschauer davongelaufen waren. Wie verlief in diesem Spannungsfeld der Start in Ihre erste Saison?
Ulrich Khuon: Spannungen sind Teil des Theaters, ohne sie gäbe es kein Drama. Für mich ist es ein Impuls, gute Arbeit zu leisten. Wir haben bereits auffallende Wegmarken gesetzt, ästhetisch und inhaltlich, mit «Frau Yamamoto ist noch da» und «Verwandlung» nach Kafka. Das ganze Haus ist mit grosser Freude dabei, eine eigene Identität zu schaffen, knüpft aber auch an die Substanz des Vorhandenen an. Es ist ein Prozess, die erste Etappe lief gut. Vor uns liegt viel Arbeit, aber künstlerische Anstrengung kann auch schön sein.
Wie wollen Sie das Vertrauen des Publikums zurückgewinnen?
Darüber denke ich nicht spezifisch nach. Wer Angst hat, einen falschen Schritt zu machen, stolpert. Vertrauen zu sich und den Menschen ist entscheidend, und das habe ich. Ich glaube, was man mit Lust kommuniziert, damit kann das Gegenüber etwas anfangen. Wenn das Publikum in positiv aufgeladener Atmosphäre nach Hause geht, wird es auch weitererzählen, dass es etwas Schönes, Nachdenkliches oder Inspirierendes erlebte. Die Hauptkraft eines Hauses ist, wenn sich das Ensemble entfalten kann und zum Strahlen kommt, wie jetzt in dem grossen Stück von Shakespeare «König Lear». Zudem wollen wir auch Stücke zeigen, die schon einen Stadtkern in sich tragen.
Wo zeigt sich der Zürich-Bezug in Ihrem Programm?
In der Würdigung der Psychoanalytikerin und C.-G.-Jung-Mitarbeiterin Sabina Spielrein, die zu oft auf ihre Rolle als Patientin und Geliebte von C.G. Jung reduziert wurde («Dr. Spielrein»), im Klassenzimmerstück über zerstörerisches Cybermobbing, das durch die schreckliche Geschichte der 13-jährigen Schülerin Céline Pfister aus Spreitenbach inspiriert wurde («#ByeBitch») oder in der Zusammenarbeit mit Martin Zimmermann in «Louise». Diese Stücke haben mit Zürich und der Umgebung zu tun und sind zugleich global.
Mit 21 Premieren nehmen Sie sich nicht nur viel vor, sondern spannen den Bogen auch thematisch sehr weit.
Monotonie darf es im Theater nicht geben. Es braucht thematische Vielfalt, damit das Theater zum Tagesgespräch wird und neugierig macht. Wie beim Schweizer Taschenmesser: für jede Lebenslage das richtige Werkzeug. Es ist eine Tendenz der Gegenwart, dass es sehr viele Szenen gibt, die in sich gut funktionieren, die aber wenig untereinander kommunizieren. Mein Wunsch ist, dass das immer wieder durchbrochen wird. Zum Beispiel mit «Die rote Zora», zu der die meisten eine Verbindung haben. Zugleich geht es darin um ein Thema, das in Zürich auf den ersten Blick wenig sichtbar ist, aber doch auch existiert: Armut. Kunst kann bewusst machen, was nicht sichtbar ist.
«Wokeness» verfehlt den Publikumsgeschmack deutlich, wie die Zahlen der vergangenen Jahre zeigen. Wie politisch soll das Schauspielhaus Zürich unter Ihrer Leitung werden?
«Wokeness» in seiner ursprünglichen Bedeutung, nämlich Wachsamkeit, ist seit Jahrtausenden in der Kunst zu Hause. Kunst macht Themen sichtbar, die nicht ohnehin im Fokus stehen. Die Menschen wollen aber selbst darauf aufmerksam werden, ihre eigenen Entdeckungen machen und ins Nachdenken kommen, und nicht mit dem Holzhammer vorgegeben bekommen, was sie denken sollen. Blockbildung, wie sie heute stark ist, löst man eher durch feine, subtile, irritierende, erzählerische Impulse auf. Theater verstehe ich als einen Reizstrom-Aggregator, der kitzelt, provoziert, unruhig macht, aber auch unterhält. Wenn das nicht der Fall ist, haben wir nicht erreicht, was wir wollten.
Inwiefern beeinflusst Ihr theologischer Hintergrund Ihre Sicht auf das Theater als Ort der Reflexion und vielleicht sogar der spirituellen Auseinandersetzung?
Es geht eher um eine existenzielle Auseinandersetzung, in der Theologie und in der Literatur. Sterblichkeit, Fehlbarkeit, Schuld und Sinnfindung sind zentrale Themen des Menschseins. Die Geschichten in der Bibel sind von einer ähnlichen Wucht wie jene von Sophokles. Für mich ist es kein grosser Schritt von der Theologie zum Theater, aber ich bringe keine Theologie auf die Bühne, ich habe keine theologische Botschaft. Die Wahrheit ist, wie der grossartige Anreger Lessing sagte, ein Feld von Gott, für uns Menschen bleibt nur die Suche und der Austausch. Wer glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein, ist nicht mehr ansprechbar für Überraschendes und Neues.
Was verbindet Sie mit Gottfried Keller, dem berühmten Zürcher Schriftsteller?
Während meines Germanistikstudiums war der Realismus meine Lieblingsepoche und ich las den ganzen Keller sehr genau, den ich für seinen dunklen Humor, seine Melancholie, seine Ironie und seine Abgründe schätzte. Rund 50 Jahre später komme ich nun in die Stadt Gottfried Kellers, die gar nicht so anders ist, wie er sie kannte. Sogar die Häuser, in denen er lebte, und die Wirtshäuser, in denen er verkehrte, gibt es noch. Das ist ein phänomenales Stadtgefühl! Heute fasziniert mich an Keller, dass alles, was er heiss und innig liebte, nicht geschafft hat, wie Maler und Dramatiker zu werden. Stattdessen wurde er zum berühmten Novellisten und Romanschriftsteller und schuf Meisterwerke der Erzählkunst, was er gar nicht angestrebt hatte. Das ist lehrreich: Vielleicht gehen unsere Sehnsüchte manchmal in die falsche Richtung, dabei liegt da etwas parat, das wir übersehen.
Zum Schluss eine Frage aus dem berühmten «Fragebogen» von Max Frisch, der hier am Schauspielhaus wirkte. Welche Hoffnung haben Sie aufgegeben?
Irgendwo wirklich anzukommen.
Weitere Informationen:
Soeben lief am Pfauen «König Lear» von Shakespeare an. Das ganze Programm des Schauspielhauses ist ersichtlich unter:www.schauspielhaus.ch
Theater machen in der Stadt Gottfried Kellers: Ulrich Khuon hält die Festrede zum traditionellen Herbstbott der Gottfried-Keller-Gesellschaft. Sonntag, 27. Oktober, 10.15 bis 12.30 Uhr im Rathaus Zürich. Eintritt frei.
Zur Person
Ulrich Khuon, am 31. Januar 1951 in Stuttgart geboren, studierte Jura, Germanistik und Theologie und kam über seine Tätigkeit als Theaterkritiker zum Theater. Er leitete Theater in Konstanz, Hannover und Hamburg und war zuletzt Intendant des Deutschen Theaters in Berlin. Zur Spielzeit 2024/25 übernahm Khuon am Schauspielhaus Zürich interimistisch die Intendanz und den Vorsitz der Geschäftsleitung. Er schaut leidenschaftlich gerne Eishockey und ist derzeit Fan vom ZSC.
Lade Fotos..