Denkzeit unter der Dusche
Seit 15 Jahren bereichert die Zürcher Schriftstellerin Michèle Minelli die Literaturlandschaft. Vor kurzem erschien ihr zehnter Roman und einer kommt demnächst auf die Kinoleinwand. Von Isabella Seemann
Vielseitige Schriftstellerin: Michèle Minelli. Bild: Anne Bürgisser
Seit 15 Jahren bereichert die Zürcher Schriftstellerin Michèle Minelli die Literaturlandschaft. Vor kurzem erschien ihr zehnter Roman und einer kommt demnächst auf die Kinoleinwand. Von Isabella Seemann
Soeben ist Ihr zehnter Roman, «Wie es endet», erschienen. Wird das Schreiben leichter oder schwerer, je mehr Bücher man bereits veröffentlicht hat?
Michèle Minelli: Für mich wird es leichter, weil ich mir selbst keine Grenzen mehr setze und Dinge noch mutiger ausprobiere als früher. Zudem habe ich Vertrauen in mich selbst, den Weg zu finden, wenn ich einmal stocke und neu überlegen muss, wie weiter mit einem Handlungsstrang.
Die Protagonisten Ihres neuen Romans arbeiten in der Filmbranche. Was verbindet Sie damit?
Bis dreissig arbeitete ich als Produktions- und Aufnahmeleiterin, später schrieb ich das Drehbuch zu einem Dokumentarfilm und führte Regie. Die treibende Frage beim Roman «Wie es endet» war, wie sich jemand fühlt, der die Wirklichkeit so ganz anders wahrnimmt als die Menschen, die ihn umgeben. Da schien mir die Filmbranche das richtige Setting, denn Filmschaffende gestalten neue Realitäten nach ihrem Geschmack.
Was hat Sie daran gereizt, eine Handlung zu schreiben, die die Grenze zwischen Realität und Vorstellung verschwimmen lässt?
Überspitzt gesagt: Ich konnte mir noch nie vorstellen, wie ein Faxgerät funktioniert, noch begreife ich, wieso das flache Display eines Handys eine Berührung mal als «öffnen», mal als «lauter», mal als «anrufen» etc., aber immer korrekt, interpretiert. Die Idee, dass wir die Welt verstehen und wissen, was real ist, ist ja letztlich nur eine Idee. Wir verlassen uns auf unsere Gedanken, auf Bilder im Hirn, das liebend gern kausale Zusammenhänge schafft – auch da, wo keine sind. Unsere Erinnerungen sind unsere Erinnerungen und haben manchmal schmerzhaft wenig mit dem zu tun, was wirklich war. Diese Gedankenspiele fordern heraus. Im Roman setze ich Thierry in eine Realität, die sich ihm erst allmählich zeigt. Er lässt mich miterleben, was es heisst, wenn die eine Realität die andere überlagert – das hat schon was.
Apropos Film: Ihr historischer Roman «Die Verlorene», basierend auf einem wahren Fall von Kindsmord, diente als Vorlage für den Film «Friedas Fall», der jüngst am Zürcher Filmfestival Weltpremiere feierte. Wie ist es, das eigene Buch auf der grossen Leinwand zu sehen?
«Friedas Fall» zeigt einen wesentlichen Teil des Romans «Die Verlorene» und bündelt die Emotionen kompakt. Beim Roman habe ich das gesamte Leben der Frieda Keller erzählt und konnte mehrere Höhepunkte setzen, ein Buch liest man ja über Tage hinweg. Beim Drehbuchschreiben war mir wichtig, mich vor allem in der Anfangsphase durch den Dramaturgen Stephan Puchner begleiten zu lassen, damit es möglichst dicht wurde, mit Zug nach vorn. Dass uns die Condor Films so viel Vertrauen entgegengebracht hat, war ein Geschenk. Die dringliche Regie-Arbeit von Maria Brendle und das Charisma, mit dem alle Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Figuren charakterisieren und greifbar werden lassen, macht mich einfach nur glücklich.
Wie haben Sie es empfunden, Ihre kreative Kontrolle über die Geschichte teilweise abzugeben, als die Regie die filmische Umsetzung übernahm?
Das ist ein wichtiger Schritt, und ich habe ihn bewusst getan. Ich wusste, meine Arbeit ist jetzt zu Ende und die Arbeit von anderen beginnt. Dass ich dennoch beigezogen wurde, zum Beispiel um die Schweizer Mundart Dialoge authentisch zu gestalten, war das Sahnehäubchen für mich. Ich wollte unbedingt, dass die Figuren glaubwürdig Dialekt sprechen, mit Mundart Grammatik und Sprachbildern, die in die Zeit passen.
Sie sind Dozentin für kreatives Schreiben und bieten literarisches Schreib-Coaching an. Wie ist das bei Ihnen: Gibt es für Sie einen typischen Schreiballtag?
Mein Schreiballtag ist ritualisiert. Aufstehen, Küche putzen, zwei Liter Tee kochen, ab an den Schreibtisch und so lange sitzen bleiben, bis ich mein Tagesziel erreicht habe. Dabei läuft in Dauerschleife leise Musik – bei jedem Buch eine andere. Zudem brauche ich Licht, offene Türen und zwischendurch einmal zehn Denkminuten unter der Dusche. Ach ja: Und eine Katze auf dem Schreibtisch schadet auch nicht.
Wie sieht es mit Schaffenskrisen aus? Fragen Sie sich manchmal, was mache ich hier überhaupt? Sollte ich es nicht lieber bleiben lassen?
Wenn keine «leere» Zeit bleibt, wenn jede Minute des Tages gefüllt ist, erlebe ich Krisen. Um kreativ zu arbeiten, brauche ich Ruhephasen und das Nichts. Nur da beginnen neue Gedanken, und neue Szenen tauchen vor meinen Augen auf, die ich später vielleicht zu einer Geschichte verwebe.
Was sind für Sie die Zeichen, dass eine Idee das Zeug hat, andere Leser wirklich zu erreichen und zu berühren?
Ob eine Idee andere berührt, weiss ich nicht. Aber ich spüre ganz klar, wenn mich eine Idee gefangen nimmt. Sie lässt mich nicht mehr los, besetzt meinen Kopf, sitzt auf dem Beifahrersitz und plappert. Das ist dann ein klares Zeichen, das nehme ich ernst.
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