Gewalt ist oft unsichtbar
Jedes fünfte Kind in der Schweiz erfährt regelmässig psychische Gewalt, wird beleidigt und beschimpft. Viele Eltern sind sich gar nicht bewusst, was Worte auslösen können. - Von Ginger Hebel
Psychische Gewalt ist oft nicht erkennbar. Die Folgen sind jedoch verheerend. Bild: PD
Jedes fünfte Kind in der Schweiz erfährt regelmässig psychische Gewalt, wird beleidigt und beschimpft. Viele Eltern sind sich gar nicht bewusst, was Worte auslösen können. - Von Ginger Hebel
Du bist so eine Enttäuschung. Aus dir wird nie was. Ich hab dich nicht mehr lieb. Worte wie diese verletzen. «Psychische Gewalt ist unsichtbar und hinterlässt keine blauen Flecken. Aber ihre Auswirkungen begleiten Kinder ein Leben lang», sagt Regula Bernhard Hug, Leiterin der Geschäftsstelle Kinderschutz Schweiz.
Die neusten Zahlen einer repräsentativen Studie zum Bestrafungsverhalten von Eltern der Universität Freiburg im Auftrag von Kinderschutz Schweiz zeigen: Jedes fünfte Kind erfährt regelmässig psychische Gewalt, wird beleidigt, beschimpft und gedemütigt. Jeder vierte Vater und jede vierte Mutter droht mit Schlägen oder verbietet dem Kind zu sprechen und zu weinen. «Die Zahlen sind erschreckend und haben uns dazu veranlasst, eine Sensibilisierungs-Kampagne zu starten», sagt Regula Bernhard Hug. Sie ist überzeugt: Viele Eltern sind sich gar nicht bewusst, was Worte auslösen können. Die Kinderschutz-Expertin weiss: Regelmässige psychische Gewalt gefährdet oft die Entwicklung von Kindern, hat Lern- und Bindungsstörungen zur Folge sowie im schlimmsten Fall Depressionen und Angstzustände. «Kinder empfinden die Reaktion der Eltern als persönlichen Angriff. Sie fühlen sich schnell zurückgewiesen und wertlos.»
Demütigungen, Drohungen, Liebesentzug. Was macht das mit den Kindern? «Das ist schmerzhaft und geht tief. Diese Erfahrungen prägen das Kind», sagt Martina Schmid, Beraterin beim Elternnotruf in Zürich. Eltern kontaktieren die Beratungsstelle zu allen Themen, bei denen sie sich einen Austausch mit einer Fachperson wünschen. «Die Selbstregulation in herausfordernden Situationen ist auf jeden Fall ein häufiges Thema», weiss Schmid. Psychische Gewalt beginnt ihrer Ansicht nach dann, wenn es nicht mehr darum geht, das Kind in seiner Entwicklung zu unterstützen, einen Schritt weiterzukommen, etwas auszuhalten oder eine Lösung zu finden, sondern wenn man dem Kind mit Drohen, Abwerten, Ignorieren und Einschüchtern begegnet und das Kind dann aus Angst vor diesem inneren Schmerz kooperiert. Die Fachfrau rät Eltern, sich nicht selber zu verurteilen für die Heftigkeit der eigenen Gefühle. «Die Enttäuschung und die Wut zeigen, wie anstrengend und frustrierend die Situationen sein können. Einen Spielraum hat man als Eltern im Handeln und hier gilt: Man kann nur sich selbst kontrollieren und somit soll man den Fokus auf die Frage legen: «Was hilft mir in solchen Momenten, damit ich auch in herausfordernden Situationen die Mutter oder der Vater bin, die ich sein möchte»? Schmid rät, den Moment zu erkennen, wo man noch aus der Dynamik aussteigen kann, und ausprobieren, was dabei hilfreich ist. Beispielsweise innere Bilder oder Mantras nutzen, Atem- und Körperübungen machen oder das Gespräch mit einer anderen Person suchen. Auch sei es ratsam, von Anfang an einen Plan B vorzubereiten, da ein möglicher Ausweg oder Ausstieg den Druck verringert, Plan A auf Biegen und Brechen durchführen zu müssen.
Psychische Gewalt prägt den Familienalltag in der Schweiz. Der Anteil der Mütter und Väter, die gegenüber ihren Kindern regelmässig psychische Gewalt zeigten, ist nach einer anfänglichen Reduktion wieder angestiegen. Regula Bernhard Hug erklärt sich diesen Anstieg mit den erhöhten Risikofaktoren während der Coronazeit: «Der Druck auf die Familien stieg an. Viele Eltern fühlten sich gestresst, hatten gesundheitliche und wirtschaftliche Sorgen. Auch enge Platzverhältnisse können Auslöser sein. Dennoch gibt es immer eine Alternative zur Gewalt.»
Kinderschutz Schweiz bietet praxisnahe Kurse und Unterlagen an, die es Eltern ermöglichen, auf gewaltfreie Erziehungsmethoden zurückzugreifen und gesunde Beziehungen aufzubauen. «Emotionen sind menschlich. Doch bevor die angestaute Wut herausbricht, ist es hilfreich, Techniken zu erlernen, um sich selbst zu beruhigen. Mir persönlich hilft es in solchen Situationen, eine Runde um den Block zu gehen, andere zählen bis zehn und atmen tief durch, hören laute Musik und tanzen oder waschen sich mit warmem Wasser die Hände, um das Nervensystem zu beruhigen», sagt Hug.
Der Bundesrat möchte die gewaltfreie Erziehung im Gesetz verankern. Regula Bernhard Hug begrüsst den Gesetzesentwurf. «Nebst körperlicher Gewalt darf auch psychische Gewalt keinen Platz in der Erziehung haben.» Auch Kinder, die Gewalt unter ihren Eltern erleben, sind erheblichen psychischen Belastungen ausgesetzt, fühlen Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Wenn sie mitbekommen, wie die Eltern sich gegenseitig schlagen, erniedrigen und kränken, leiden auch sie. «Eltern unterschätzen oft, wie viel Kinder mitbekommen. Sie spüren alles, auch wenn sie in ihrem Zimmer sind», erklärt Hug.
Die Weihnachtszeit ist für viele Familien eine besonders stressige Zeit. Martina Schmid vom Elternnotruf rät: «Die Erwartungen anpassen, denn zur Weihnachtszeit gehören nebst den schönen Dingen auch Stresssituationen, Enttäuschungen und Gefühle der Überreizung und Überforderung. Wenn man von Anfang an davon ausgeht, dass auch diese aufkommen werden, hat man vielleicht weniger das Gefühl, dass etwas falsch läuft.»
Weitere Informationen: www.kinderschutz.ch, www.elternnotruf.ch
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