Erziehung für Vergewaltiger
Seit Januar bieten die Bewährungs- und Vollzugsdienste des Kantons Zürich ein Lernprogramm für Sexualstraftäter an. Mit diesem Instrument sollen vor allem Rückfälle verhindert werden. - Von Jan Strobel
Zum Lernprogramm verpflichtete Sexualstraftäter sollen lernen, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen oder Denk- und Verhaltensweisen zu verstehen. Symbolbild: Unsplash
Seit Januar bieten die Bewährungs- und Vollzugsdienste des Kantons Zürich ein Lernprogramm für Sexualstraftäter an. Mit diesem Instrument sollen vor allem Rückfälle verhindert werden. - Von Jan Strobel
Die Revision des Sexualstrafrechts, welches am 1. Juli 2024 in Kraft trat, brachte gleichzeitig eine neue Definition der Vergewaltigung mit sich. Als erster Grundsatz wurde die sogenannte Ablehnungslösung «Nein heisst Nein» verankert. Eine Vergewaltigung, ein sexueller Übergriff und sexuelle Nötigung liegen im neuen Strafrecht bereits dann vor, wenn das Opfer dem Täter durch Worte oder Gesten zu verstehen gibt, dass es mit der sexuellen Handlung nicht einverstanden ist. Vor der Revision wurde der Tatbestand der Vergewaltigung lediglich durch die Anwendung von Gewalt und Drohungen definiert. Daneben wird im neuen Sexualstrafrecht als Zeichen der Ablehnung auch das «Freezing» – der Schockzustand des Opfers in Furcht – gewertet. Der Tatbestand der Vergewaltigung umfasst neu nicht nur den Beischlaf, sondern auch «beischlafähnliche Handlungen», die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind. Bestraft wird überdies auch das sogenannte «Stealthing» – eine sexuelle Handlung, die zwar einvernehmlich ist, bei der aber eine Person heimlich und ohne vorgängiges Einverständnis das Kondom abstreift oder von Anfang an keines benutzt. Zudem wurde der Tatbestand der Vergewaltigung geschlechtsneutral formuliert. Es wird anerkannt, dass Personen jeglichen Geschlechts Opfer einer Vergewaltigung sein können.
Die zuletzt 2023 erhobene polizeiliche Kriminalstatistik registrierte schweizweit 8523 Gewalttaten gegen die sexuelle Integrität, davon wurden – noch nach dem alten Sexualstrafrecht – 839 als Vergewaltigung gewertet. Daneben kam es in 2967 Fällen zu Straftaten in Verbindung mit Pornografie, 1150 sexuellen Handlungen mit Kindern und 397 Fällen von Exhibitionismus. «Die Dunkelziffern sind allerdings um ein vielfaches höher», betont Mirjam Schlup, Leiterin des Amts für Justizvollzug und Wiedereingliederung des Kantons Zürich. Zum Beispiel würden nur rund 10 Prozent von Vergewaltigungen der Polizei gemeldet. «Und nur rund 8 Prozent der Opfer reichen tatsächlich eine Strafanzeige ein», so Schlup.
Für die Amtsleiterin steht neben der Bestrafung der Täter aber noch eine zusätzliche Mission im Zentrum: «Rückfälle von Sexualstraftätern müssen verhindert werden. Viele verurteilte Täter wollen zwar nicht rückfällig werden, begehen dann aber erneut eine Straftat und verursachen damit neues Leid für die Opfer. Der gute Wille allein genügt nicht. Es ist notwendig, einerseits die Konsequenzen für die Tat zu tragen, andererseits das begangene Delikt zu reflektieren.» Als Instrument für die Rückfallprävention dient seit Januar ein neues deliktorientiertes Lernprogramm für Sexualstraftäter – kurz: «DoLaS» – das von den Bewährungs- und Vollzugsdiensten des Kantons Zürich entwickelt wurde.
Kein Ersatz für Strafen
Das Programm fokussiert auf die Rückfallprävention im Sinne des Opferschutzes und soll dabei helfen, strafrechtlich relevantes Fehlverhalten nachhaltig zu ändern. «Es ist kein Ersatz für bestehende Strafen», macht Mirjam Schlup deutlich. Teilnehmende des Lernprogramms sollen in geschlechtergetrennten Gruppen- oder Einzel-Trainings lernen, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, Denk- und Verhaltensweisen zu verstehen und zu verändern oder Risikosituationen im eigenen Alltag frühzeitig zu erkennen. Danach werden alle drei Monate Kontrollgespräche geführt. Martin Schiesser, Projektleiter und Entwickler des Lernprogramms DoLaS, spricht von einem «Notfallplan», den Sexualstraftäter und Sexualstraftäterinnen «im Gepäck» haben sollen, um Risikosituationen deliktfrei bewältigen zu können. Als Vorbild diente bei der Entwicklung des Programms unter anderem das Therapieprogramm für Jugendliche mit problematischem Sexualverhalten der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK).
Zum Lernprogramm verpflichtet werden können teilbedingt oder bedingt verurteilte Sexualstraftäter durch die Staatsanwaltschaft, Gerichte und Vollzugsbehörden. Diese Verpflichtung gilt als Teil der Probezeit bei einer Strafe. Allerdings gelten für eine Teilnahme bzw. Verpflichtung für das DoLaS komplexe Eignungsabklärungen. So werden Personen mit schweren psychischen Erkrankungen oder mit einem von der Sexualnorm abweichenden Sexualverhalten wie etwa Pädophilie nicht zugelassen. «Das Lernprogramm ist keine forensische Psychiatrie oder Psychotherapie», unterstreicht Projektleiter Martin Schiesser.
Die Kosten für ein Lernprogramm belaufen sich pro Teilnehmer auf rund 3200 Franken in einem Gruppensetting und 4100 Franken in einem Einzelsetting. Joder Regli, Bereichsleiter Lernprogramme bei den Bewährungs- und Vollzugsdiensten, rechnet vor: «Die Gesamtkosten eines Rückfalls zum Beispiel im Kontext der häuslichen Gewalt in Partnerschaften werden auf rund 160 000 Franken geschätzt.» Durch die Teilnahme an einem Lernprogramm könnten somit Kosten eingespart werden, ist Joder Regli überzeugt.
Neben dem neu hinzugekommenen Lernprogramm für Sexualstraftäter bieten die Zürcher Bewährungs- und Vollzugsdienste ebenso unter anderem Lernprogramme bei häuslichen und ausserhäuslichen Gewaltdelikten, drogen- oder alkoholbedingten Strassenverkehrsdelikten oder auch ein Training genereller sozialer Kompetenzen an.
Vom Erfolg der Lernprogramme ist das Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung überzeugt: Eine wissenschaftliche Evaluation des Lernprogramms gegen häusliche Gewalt habe gezeigt, dass sich die Rückfallquote um 80 Prozent reduzieren lasse. «Mit dem neuen Lernprogramm für Sexualstraftäter wollen wir künftig genauso wirkungsvoll sein», sagt Joder Regli.
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