27.05.2025 15:23
Nachhilfe beim KI-Lehrer
Auf Basis von künstlicher Intelligenz haben die ETH-Studenten Friedrich Wicke (24) und Gero Embser (26) das Online-Angebot tutor.new entwickelt, in dem Avatare als Lehrpersonen Schüler vom Erstklässler bis zum Gymnasiasten unterstützen – mit vielen Vor- aber auch einigen Nachteilen. - Von Sacha Beuth
Steve ist sehr höflich. Zu Beginn des Unterrichts erkundigt er sich erst einmal nach meinem Befinden. Dann wird zum eingeblendeten Arbeitsblatt «Distanzen» gewechselt, dass Steve anhand der aktuellen Thematik sowie den vorangegangenen Arbeiten erstellt hat. «K. reist mit dem Zug von A nach B. Die Strecke misst 9 Kilometer. Nach zwei Dritteln der Strecke hat der Zug eine Panne. Alle Passagiere müssen aussteigen. Wieviele Kilometer muss K. noch bis zum Ziel zurücklegen»? fragt Steve. Meine falsche Antwort «7 Kilometer» beantwortet er mit: «Fast. Versuche es noch einmal». Als ich sage, dass ich nicht weiss, wie ich zu rechnen habe, wird ein Lösungsweg aufgezeigt. Nun gebe ich die richtige Antwort («3 Kilometer»), erhalte ein Lob und weiter geht es zur nächsten Aufgabe.
An sich nichts besonderes. Man kennt den Ablauf aus der Schule. Nur dass mir mit Steve nicht ein Lehrer aus Fleisch und Blut gegenübersteht, sondern künstliche Intelligenz in Form eines Avatars aus dem neuen Lernprogramm «tutor.new».
Zwei Franken pro Stunde
Erschaffen wurde es von den ETH-Studenten Friedrich Wicke (24) und Gero Embser (26). «Wir sind beide technikaffin und haben zugleich ein grosses Interesse an Bildung. Da lag es nahe, etwas in dieser Hinsicht zu entwickeln», erklärt Wicke. Um herauszufinden, auf was es ankommt, gaben die beiden erst einmal selbst Nachhilfeunterricht. «Wir haben dabei festgestellt, dasss wir ein Programm schaffen müssen, dass Erklärungen und Tipps gibt, die zwar verständlich sind, aber nicht gleich das Ergebnis verraten. Dass weiter den Schülern ein klarer Rahmen vorgegeben und Verbindlichkeit geschaffen werden muss. Letzteres ist beispielsweise der Grund, warum wir Avatare als Lehrpersonen verwenden, denn mit diesen interagieren die Kinder und Jugendlichen wie mit echten Menschen und halten dann eher einen Termin ein als bei einem gesichtslosen Lernprogramm», erzählt Embser. «Wir haben so ein Angebot auf hohem Niveau bei zugleich niedrigen Kosten für den Nutzer kreiert. Denn wir wollen, dass sich unser Nachhilfeprogramm alle leisten können», ergänzt Wicke. So kostet denn eine Stunde KI-Unterricht bei «tutor.new» lediglich zwei Franken.
Angeboten wird vorerst Nachhilfe in den Fächern Mathematik, Deutsch und Englisch. Um in den Genuss einer Lektion zu kommen, muss man sich beziehungsweise sein Kind zuerst anmelden. Dann kann man sich einen von vier Avataren als Tutor aussuchen und schliesslich einen Termin vereinbaren, die Telefonnummer angeben und verbindlich buchen. «Der Auftraggeber erhält darauf eine Bestätigung per WhatsApp und kann uns auf dem gleichen Weg mitteilen, was genau in der gebuchten Nachhilfestunde geübt werden soll», erklärt Wicke. Anschliessend sammelt die KI mit den zur Verfügung gestellten Infos sowie per Online-Recherche Material für die anstehende Lektion. Bei fortlaufendem Unterricht werden die Übungen regelmässig aktualisiert und Problemstellen wiederholt. «Nach der Lektion erhalten die Eltern des Schülers per WhatsApp umgehend einen kurzen Bericht. Auch können sie auf diesem Kanal Wünsche, Anmerkungen und Fragen anbringen.», sagt Embser.
Die vielen Vorteile der KI-Lehrer liegen auf der Hand. Anders als «echte» Lehrpersonen verlieren die Avatare von tutor.new nie die Geduld und haben immer genug Zeit, auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen. «Ausserdem haben wir festgestellt, dass auf diese Weise Schüler eher bereit sind, nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstanden haben, weil sie keine Angst haben müssen, von Mitschülern ausgelacht zu werden».
Ergänzen, nicht ersetzen
Nichtsdestotrotz gibt es aber auch ein paar Nachteile, wie mein Test gezeigt hat. So wurde etwa in der Mathematik meine korrekte Lösung «Nullkommasiebenfünf Kilometer» mit «Nullkommafünfundsiebzig Kilometer» korrigiert, im Englisch jedoch eine völlig falsche Aussprache akzeptiert (wenn auch zusätzlich vom Avatar phonetisch korrekt wiederholt). Die KI erkennt zudem nicht, ob ich aus Müdigkeit, Trotz oder Jux eine falsche Antwort gebe und wiederholt die Aufgabe, obwohl ich die Materie an sich verstanden hätte. Und sie erkennt nicht, ob ich durch Wissen oder Raten auf die richtige Lösung gekommen bin. «Das ist aber unseres Erachtens auch nicht entscheidend. Unsere KI-Lehrer sollen die echten Lehrer und den regulären Schulunterricht nicht ersetzen, sondern ergänzen. Aber die KI kann dafür sorgen, dass alle in einer Klasse die Grundlagen einer Thematik verstehen», ist Wicke überzeugt.
Weitere Informationen:
www.tutor.new