Giftnotruf schlägt Alarm
Nach einem Rekordjahr steht der schweizerische Giftnotruf (145) vor dem Aus. Ohne rasche finanzielle Unterstützung durch den Bund kann der Betrieb nicht weitergeführt werden. - Von Ginger Hebel
Rund 120 Personen melden sich täglich beim Giftnotruf. Trotz steigenden Anfragen steht der Auskunftsdienst vor dem Aus. Bild: PD
Nach einem Rekordjahr steht der schweizerische Giftnotruf (145) vor dem Aus. Ohne rasche finanzielle Unterstützung durch den Bund kann der Betrieb nicht weitergeführt werden. - Von Ginger Hebel
Panisch wählt eine Mutter die Nummer 145 des Giftnotrufs. Ihr Kind hat in ein buntes, glänzendes Waschmaschinen-Pad gebissen. Die Experten von Tox Info Suisse, alles Ärzte, Pharmazeuten oder Pflegefachpersonen, bewahren einen kühlen Kopf, beruhigen die Frau und sagen, was zu tun ist. Sie solle den Mund des Kindes mit Wasser ausspülen und Entschäumer verabreichen, um eine Schaumbildung im Magen zu reduzieren. «Solche Vorfälle sind häufig. Die bunten Liquid Caps sehen aus wie grosse Bonbons und sind für Kinder sehr attraktiv», sagt Dr. med Josef Widler, Stiftungspräsident Tox Info Suisse. Tödlich seien sie nicht, aber unangenehm. «Die Menge macht das Gift.»
Anfragen steigen stetig
Noch nie wurde das schweizerische Giftinformationszentrum mit Sitz in der Stadt Zürich so oft konsultiert wie letztes Jahr. 42 782 Beratungen wurden durchgeführt, was pro Tag durchschnittlich knapp 120 Anrufen entspricht. Die Anfragen steigen von Jahr zu Jahr. «Die Unsicherheit in der Bevölkerung nimmt zu, was Gesundheitsthemen betrifft», beobachtet Josef Widler. Unter der Notrufnummer 145 erhalten Anruferinnen und Anrufer rund um die Uhr schnelle und fachkundige Auskunft zum Umgang mit Vergiftungen.
Die meisten Anrufer sind Privatpersonen. Aber auch Fachpersonen aus Spitälern und ambulanten Gesundheitseinrichtungen in der gesamten Schweiz sind froh, in medizinischen Notsituationen auf die toxikologische Expertise von Tox Info Suisse zurückgreifen zu können. Jetzt steht der Giftnotruf vor dem Aus. «Ohne finanzielle Soforthilfe durch den Bund müssen wir 2026 schliessen», bedauert Geschäftsführerin Damaris Ammann.
Die 1966 ins Leben gerufene Stiftung wurde bisher auf meist freiwilliger Basis von einer wechselnden Zahl von Trägern finanziert. Seit fünf Jahren schreibt sie jedoch Verluste. Die Finanzierungslücke ist massiv, der Spardruck ebenso. «Das BAG setzt sich dafür ein, dass es mehr niederschwellige Angebote gibt, für Impfungen, die Jugendpsychiatrie, aber eine wichtige Anlaufstelle wie der Giftnotruf wird finanziell nicht unterstützt. Das passt nicht zusammen», enerviert sich Josef Widler.
Kinder stark betroffen
Tox Info Suisse fordert in einer Petition 1,1 Millionen Franken Zusatzgelder. Bisher haben 30 000 Menschen unterschrieben. «Durch die Beratungen des Giftnotrufs können unnötige Besuche auf der Notfallstation vermieden werden; das entlastet auch das Gesundheitssystem», betont Josef Widler. Hinter dem Giftnotruf stehen 35 Fachpersonen, Ärzte und Pflegepersonal. «Bei Vergiftungen haben die Leute keine Lust, noch lange zu googeln. Sie wollen schnelle, kompetente Auskunft», sagt Damaris Ammann. Die meisten unfallbedingten Vergiftungen finden im häuslichen Umfeld statt. Am häufigsten betroffen sind Kinder bis 5 Jahre. Sie trinken Abwaschmittel oder Entkalker, essen Zigaretten aus dem Aschenbecher oder spritzen sich beim Spielen Insektenspray ins Auge. Bei vielen Substanzen können die Gift-Experten Entwarnung geben (siehe Anti-Panik-Liste unten). «Gefährlich sind Chemikalien, die in die Augen geraten. Da muss man sofort handeln», sagt Josef Widler. Er weiss: viele Eltern reagieren in der Panik falsch. «Brechen herbeiführen gilt es zu vermeiden», sagt der Fachmann. Denn dadurch gelange die fremde Substanz nochmals durch die Speiseröhre, was zu weiteren Komplikationen führen könne. Es sei wichtig, das Gift in den Griff zu bekommen. Die Einnahme von Aktivkohle beispielsweise bindet Gifte im Verdauungstrakt. Wichtig: Besser einmal zu viel beim Giftnotruf anrufen als zu wenig, um genaue Anweisungen im Ernstfall zu erhalten.
Letztes Jahr starben elf Erwachsene, nachdem sie einen Medikamenten-Cocktail oder Pflanzen konsumiert hatten. Sie alle kontaktierten vorgängig den Giftnotruf. Tox Info Suisse hatte zudem Anfragen zu rund 4000 Personen mit suizidalen Absichten . Sie haben absichtlich Medikamenten-Cocktails geschluckt oder fremde Substanzen konsumiert. «Wir stellen sicher, dass in solchen Fällen der Rettungsdienst alarmiert wird. Zudem instruieren wir oftmals die behandelnden Ärzte vorgängig. Ohne den Giftnotruf kann künftig vielen Menschen nicht mehr geholfen werden», ist Josef Widler überzeugt.
Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch
Nach Einnahme
(betroffene Person ist wach)
• Kein Erbrechen herbeiführen
• Mund ausspülen
Bei nicht schäumenden Substanzen:
1–2 dl klare, fettfreie Flüssigkeit möglichst rasch trinken; Wasser,
Sirup oder Tee
Bei schäumenden Substanzen:
Nur 1 Schluck trinken
• Verabreichung von Aktivkohle oder schaumhemmender Medikamente nur auf ärztliche Verordnung oder in Rücksprache mit Tox Info Suisse
«Keine-Panik»-Liste
Diese Produkte führen bei versehentlicher Einnahme maximal zu leichten Magen-Darm-Beschwerden. Es sind keine Vergiftungen zu befürchten:
• Augenschminke (Kajal, Eyeliner, Lidschatten …)
• Lippenpflege (Lippenstift)
• Babycrème (Wundcrème)
• Blumenerde
• Farben (Acrylfarbe, Bunt-, Filz-, Wachsmal- und Glitzerstifte, Wassermalfarbe, Fingerfarbe)
• Gummi (Knetgummi, Radier-gummi)
• Karton
• Papier (Zeitungspapier, Zeichnungspapier, usw.)
• Zündholzköpfchen
• Kreide (Strassenkreide)
• Verpackungspellets (i.d.R. aus Styropor, Maisstärke oder Karton)
• Verpackungsmaterialrückstände an Esswaren
Mögliche Massnahmen:
• Mund/Haut reinigen und spülen
• 1–2 dl klare, fettfreie Flüssigkeit trinken (lassen), z.B. Wasser, Sirup oder Tee
• Kein Erbrechen herbeiführen
Arztkontrolle:
• Bei Anzeichen eines Fremdkörperproblems (z.B. Atemnot, Schluck-beschwerden) sofort und notfalls mit der Ambulanz
• Bei sehr ausgeprägten Magen-Darm-Beschwerden
toxinfo.ch
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