Werden oft angefeindet: Mitglieder des Zürcher Gemeinderates bei einer Sitzung. Screenshot: SB/stadtzuerich.ch
28.10.2025 17:05
Zielscheibe für andere
Die Mehrheit der Parlamentarierinnen und Parlamentarier in der Schweiz sieht sich laut einer Studie der Uni Zürich immer wieder Anfeindungen ausgesetzt. Im Stadtzürcher Gemeinderat stützen Links und Rechts die Resultate. Bezüglich der Ursachen hierfür gehen die Meinungen allerdings auseinander. - Von Sacha Beuth
Die kürzlich publizierte Studie, welche von der Uni Zürich im Auftrag des Eidgenössischen Justiz- und Polizeiepartements EJPD durchgeführt wurde, bringt Erschreckendes zu Tage: Von den insgesamt 3532 befragten Parlamentsmitgliedern erlebten auf Bundesebene 98 Prozent, auf Kantonsebene 75 Prozent und auf kommunaler Ebene 45 Prozent Anfeindungen im Zusammenhang mit ihrem politischen Amt. Die Palette reicht hierbei von Herabsetzungen und Beleidigungen bis zu Drohungen und Gewalt.
Auch und gerade in Zürich sind derlei Vorfälle keine Seltenheit. Noch in allzu guter (oder besser: schlechter) Erinnerung dürfte der Shitstorm mit Hassmeldungen und Drohungen über Grünen-National-rätin Meret Schneider sein, als sie Anfang Jahr mehr Regulierung in sozialen Medien gefordert hatte. Oder die Beschimpfungen und Drohungen, der sich 2024 Gemeinderätin Sanija Ameti (parteilos, damals GLP) ausgesetzt sah, nachdem sie eine Abbildung der Madonna mit Kind als Zielscheibe für Schiessübungen benutzt hatte. 2021 übergoss ein Unbekannter SVP-Regie-rungsrätin Natalie Rickli in Gossau mit Apfelschorle. 2019 wurde den SVP-Politikern Christoph Mörgeli und Roger Köppel im Zürcher Lokal Sphères von Linksextremen ein Getränk ins Gesicht geschüttet. Und 2011 verprügelten Vermummte den damaligen Nationalrat Hans Fehr (ebenfalls SVP), als er auf dem Weg zur Albisgüetli-Tagung war. Die Fälle beweisen, dass Anfeindungen aus allen politischen Lagern kommen. Ein Schluss, zu dem auch die Eingangs genannte Studie der Universität Zürich gelangt. Allerdings zeigt diese auch, dass vor allem weibliche, an den Polen des linken und rechten Politspektrums agierende und minderheitenangehörige Parlamentsmitglieder betroffen sind. Von Letzteren erlebten alle Befragten mindestens einmal politische Anfeindungen.
Um einen expliziten Überblick über die diesbezüglich Situation im Stadtzürcher Parlament zu erhalten, hat das «Tagblatt» alle im Gemeinderat vertretenen Parteien gebeten, Stellung zur Studie zu beziehen. Bis auf Mitte und SVP antworteten alle innerhalb des gesetzten Zeitrahmens.
Dabei zeigte sich, dass in allen Gemeinderatsfraktionen Mitglieder angefeindet wurden. So schreibt Michael Schmid von der FDP: «Es entspricht leider der Realität, dass auch Kommunalpolitikerinnen und -politiker immer wieder Ziel von Beschimpfungen, Anfeindungen oder gar Drohungen werden.» Laut David Garcia Nuñez von der AL gäbe die Studie ein Abbild des aktuellen politischen Diskussionsklimas wieder. «Viele der darin getroffenen Aussagen decken sich mit meiner persönlichen Erfahrung beziehungsweise mit jener vieler meiner Gemeinderatskolleg*innen.» Er werde auf X permanent in unterschiedlicher Weise bedroht. «Von ‹Wir remigrieren dich› bis zu mehrfachen Todesdrohungen habe ich alles erhalten. Zudem werde ich permanent als ‹pädophil› verunglimpft.» Auch Jürg Rauser (Grüne) hat nach eigenen Aussagen «einige Anfeindungen und Beleidigungen per Mail erlebt». Laut seiner Parteikollegin Anna-Béatrice Schmaltz würden sich oft Sexismus und andere Diskriminierungen vermischen. Für Sven Sobernheim (GLP) ist klar: «Umso mehr eine Person sich exponiert, umso mehr Anfeindungen hat diese erlebt».
Keine Selbstkritik
Herrscht soweit breiter Konsens, tun sich bereits zur Frage, inwieweit der Umgang zwischen Politikerinnen und Politiker untereinander sowie zwischen Parlamentsmitgliedern und Bevölkerung rauer geworden ist, Unterschiede auf. Während Sobernheim hier keine Veränderung feststellt, findet Oliver Heimgartner, Co-Präsident der SP Stadt Zürich: «Der Ton in der politischen Auseinandersetzung ist in den letzten Jahren deutlich rauer geworden». Auch die Suche nach der Ursache für die Anfeindungen geht in unterschiedliche Richtungen. Von Selbstkritik ist wenig bis nichts zu hören. Schuld sind die anderen. «Gerade linke Parteien tun sich häufig schwer, sich vom Verschmieren von Wahlplakaten, Gewalt und Vandalismus an Demos oder Einschüchterungsversuchen zu distanzieren», schreibt Schmid. Derweil stellt Heimgartner eine Zunahme «gezielter Hetze von rechts gegen Minderheiten, Frauen und progressive Kräfte» fest. Sobernheim wiederum sieht keinen Anlass, die Parlamentsmitglieder in die Pflicht zu nehmen. «Denn es kann nicht sein, dass gewisse Themen nicht behandelt werden, nur weil die Person dann Angst vor Anfeindungen haben muss».
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